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„Ansichten vom Niederrhein“: eine grenzüberschreitende Lektüre

„Ansichten vom Niederrhein“, das klingt nach einem weiteren Bildband mit Kopfweiden vor Sonnenuntergang. Stattdessen trägt diesen Titel ein schwergewichtiger, opulenter Prachtband mit den Erzählungen des Reiseschriftstellers Georg Forster (1754-1794), die über 200 Jahre alt sind. Der Autor segelte mit James Cook um die Welt, war Naturforscher und Journalist- und reiste für diese 450 Seiten über die nordeuropäischen Landschaften, die Landessitten der Bevölkerung, Ökonomie und politische Verfasstheit in Begleitung des jungen Alexander von Humboldt durch Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich: von Mainz den Rhein abwärts über Köln, Düsseldorf, Aachen, Lüttich, Antwerpen, Den Haag, Amsterdam, schließlich nach London und Paris. Für Forster war der Niederrhein etwas weitreichender als für uns heute.

Der Natur- und Menschenkundler Forster war ein Zeitgenosse Goethes, ein Bibliothekar und Büchernarr – und Begründer des wissenschaftlich fundierten Reiseberichts. Er war aber auch Freimaurer, Jakobiner und Revolutionär in dieser Zeit der Aufklärung. Sein mit Malerei jener Epoche illustrierter Reisebericht  ist mehr als nur Landschaftsbeschreibung. Forsters Essays sind politisch und philosophisch gewürzt mit dem Denken eines selbstbestimmten Menschen. Er unterhält sich mit Bauern und anderen Ständen, schließt – nicht immer nett – vom Äußeren auf den Charakter. Mehr als um botanische und zoologische Details geht es dem aufmerksam beobachtenden Ethnologen um die Bevölkerung und den politischen Zustand der bereisten Länder. Mit zahlreichen präzisen Beschreibungen von Kunst und Architektur in einem mustergültigen Stil gelten die „Ansichten vom Niederrhein“ sogar als ein bedeutendes Anfangswerk der Kunstgeschichte.

So widmet Forster allein Düsseldorf 60 Seiten (Köln nur sieben…) und der dortigen Gemäldegalerie, einer der ersten öffentlich zugänglichen Kunstgalerien. Die Herzogtümer Jülich und Berg lobt er ausdrücklich, bemerkt jedoch auch die Langsamkeit der Menschen am Niederrhein, ohne diese als Faulheit auszulegen…

Die Kraft der Sprache und die Genauigkeit der Charakterisierungen und Zustandsbeschreibungen von Mensch und Land in jener Zeit sind beeindruckend und gelten bis heute in ästhetischer Hinsicht als richtungsweisend. Die mutige Edition der „Anderen Bibliothek“, die diesem wichtigen Werk der Reiseliteratur mit einer Neuausgabe frisches Leben einhaucht, ist ein Augenschmaus an Einband, Typologie, Papier und Bildauswahl. Ich wünsche dem dicken Wälzer viele Leser. Der Preis von 79 Euro ist mehr als angemessen für ein Kunstwerk der Buchherstellung, ein derart ambitioniertes Verlagsprojekt und diesen reichen Bücherschatz, den man für den Gegenwert einer Markenjeans in die Hände bzw. in den Schoß gelegt bekommt. Der Buchhändler gewährt Einblick – und hilft sicher beim Tragen.“

Über die Autorin

Sigrun Hintzen gehört zum Leitungsteam der Klever Buchhandlung Hintzen, 1925 vom Großvater ihres Mannes gegründet. Seit den 50er Jahren beliefert diese Traditionsbuchhandlung niederländische Kunden mit deutschsprachiger Literatur – und besorgt im kleinen Grenzverkehr mit dem Nimweger Boekhandel Augustinus für die deutsche Kundschaft – schnell und ohne Aufpreis – Bücher aus den Niederlanden.