Ein Blog von Ingeborg Lindhoud.
Für den niederländischen ING-Chef muss die Welt Anfang März wohl für eine kurze Zeit sehr in Ordnung gewesen sein: Der Aufsichtsrat hatte vorgeschlagen, sein Gehalt dem europäischen Schnitt anzupassen und daher um 50 Prozent von zwei auf drei Millionen Euro zu erhöhen. Damit kann man ja leben… Nach einer Woche allerdings war der Traum aus, geplatzt am heftigen Widerspruch aus der niederländischen Bevölkerung und seitens der niederländischen Regierung. Nicht zum ersten Mal in den vergangenen Jahren war eine Gehaltserhöhung so in die Kritik geraten, dass sie letztendlich zurückgezogen werden musste. Ein ritualisiertes Beispiel niederländischen Calvinismus oder steckt noch mehr dahinter?
Niederländische Gehälter eher bescheiden
Tatsächlich sind die Vorstandsgehälter niederländischer börsennotierter Unternehmen im europäischen Vergleich nicht sonderlich üppig. Zwar fallen die Gehälter in Belgien oder Schweden im Durchschnitt noch etwas bescheidener aus, in Deutschland jedoch verdienen Vorstandsvorsitzende fast das Doppelte. Und auch in Großbritannien, Italien oder Frankreich verdienen CEOs deutlich mehr als in den Niederlanden. Gönnen Niederländer ihren Vorstandsvorsitzenden denn kein „ordentliches“ Gehalt?
Natürlich darf man auch in den Niederlanden Geld verdienen! Allerdings werden millionenschwere Gehälter, anders als in Deutschland und vielen anderen Ländern, nicht als Zeichen gesellschaftlichen Erfolgs betrachtet. Typisch für feminine Kulturen, wenn man den Definitionen der „Kulturdimensionen“ des niederländischen Kulturwissenschaftlers Geert Hofstede folgt. Feminine Werte sind laut Hofstede Fürsorglichkeit, Kooperationsbereitschaft und Bescheidenheit, während maskuline Kulturen mehr Wert auf Konkurrenzbereitschaft, Selbstbewusstsein und Statusorientierung legen. Ist die deutsche Kultur eher maskulin, zählen Schweden und die Niederlande zu den femininsten Kulturen weltweit. Kulturtheoretisch betrachtet wundert es also nicht, dass hohe Gehälter gerade in den Niederlanden (und auch in Schweden) auf wenig Begeisterung stoßen.
Bescheidenheit ist eine Zier…
Eine weitere Erklärung ist kulturhistorischer Art. Selbstdarstellung ist in den Niederlanden schon seit vielen Jahrhunderten verpönt. Der Grund dafür liegt im Calvinismus, der die niederländische Gesellschaft seit dem 17. Jahrhundert geprägt hat. Laut calvinistischer Lehre ist die Zurschaustellung von Macht und Einfluss anmaßend und eine Beleidigung Gottes. Eine Lehre, die in Holland auf fruchtbaren Boden fiel: Den Grundstein hatten bereits die Kaufleute mit ihrer egalitären Einstellung gelegt. Ihnen war es relativ egal, mit wem sie Handel trieben – Hauptsache, es lief rund! Und diese egalitäre Einstellung wiederum hat sich aus dem immerwährenden Kampf gegen das Wasser entwickelt, den man gemeinsam führen musste, damit alle trockene Füße behielten. Über viele Jahrhunderte hinweg waren die Holländer es also gewohnt, pragmatisch zu agieren und dabei nicht sonderlich viel auf Ränge und Stände zu achten.
So greifen die unterschiedlichen Elemente der niederländischen Kultur ineinander und haben sich jahrhundertelang etabliert und verstärkt. Statussymbole wie teure Autos, große Villen oder hohe Gehälter werden, trotz Verweltlichung, immer noch nicht gern gesehen. Auf gut Niederländisch „mag je je hoofd niet boven het maaiveld uitsteken“, darf man sich also nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Und so fällt in den Niederlanden die Empörung über die – durchaus saftige – Gehaltserhöhung des ING-Chefs dann auch heftig aus. Ein öffentlicher Sturm an Kritik, den man bei der ING mit ein wenig Fingerspitzengefühl und Kenntnissen über die eigene niederländische Kultur durchaus hätte vermeiden können.
… doch weiter kommt man ohne ihr?
Dennoch gibt es bei der Vorliebe für bescheidene Gehälter eins zu beachten: Ist die Belohnungsstruktur bei niederländischen Unternehmen im internationalen Vergleich zu unattraktiv, wird es schwieriger, Topmanager an sich zu binden. Sei es, weil diese ins besser bezahlende Ausland abwandern, sei es, weil ausländische Topmanager einen Bogen um die Niederlande machen. Die Frage nach der passenden Belohnung bleibt also ein Balanceakt, der immer wieder für Schlagzeilen sorgen wird.
Über die Autorin
Ingeborg Lindhoud lebt in Kleve und führt interkulturelle Trainings und interkulturelle Beratungen durch. Mit ihrer Kommunikationsagentur symphony communication ist sie auf interkulturelle Kommunikation zwischen deutschen und niederländischen Geschäftspartnern spezialisiert.