Neulich im Radio: In einem Interview auf BNR erwähne ich beiläufig, dass es im Deutschen eigentlich keine Entsprechung für den schönen niederländischen Begriff „Voortschrijdend inzicht“ gibt. Und diese Erkenntnis wurde sofort von einigen Hörern über Twitter verbreitet. Scheint also was dran zu sein. Auf jeden Fall Grund genug, sich näher mit diesem Phänomen zu beschäftigen. Tatsächlich liegt genau in diesem Begriff ein Großteil des niederländisch-deutschen Kulturunterschieds begründet. Das heißt: Wenn der Niederländer ein Ziel verfolgt, macht er einen groben Plan und legt sofort los. Unterwegs entscheidet er, je nach „fortschreitender Einsicht“, ob es rechtherum oder linksherum weitergeht – immer spontan nach neuen Chancen Ausschau haltend. Wir Deutschen dagegen planen erst bis ins letzte Detail und legen dann los. Und wehe, jemand kommt plötzlich mit spontanen Änderungswünschen! Die Konsequenzen einer „fortschreitenden Einsicht“ sind uns also zutiefst suspekt. So sehr, dass wir uns erst gar nicht die Mühe machen, einen Begriff dafür zu erfinden.
Dabei sind wir doch sonst so innovativ und fortschrittlich! Der Fortschritt an sich steht ja auch nicht im Verdacht, direkt bösartig zu sein. Aber wie steht es um den Fortschritt der Einsicht? Unser berüchtigtes Beamtendeutsch, das so geschmeidige Worte wie Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz hervorgebracht hat, kennt lediglich Fortschrittsberichte. Diese Berichte zeichnen sich in der Regel dadurch aus, dass sie erst dann erscheinen, wenn das entsprechende Projekt schon längst beendet ist – oder ein Untersuchungsausschuss die Gründe für das Scheitern ermitteln darf.
Im normalen Sprachgebrauch kennen wir höchstens Dinge im „Fortgeschrittenen Stadium“. Allerdings bezieht sich diese Zustandsbeschreibung meist auf Krankheiten. Ist die fortschreitende Einsicht also in Wirklichkeit eine „Einsicht in fortgeschrittenem Stadium“ und somit direkt als Krankheit zu diagnostizieren? Ist sie vielleicht sogar ansteckend? Der Gedanke ist nicht ganz abwegig. Renommierte Verschwörungstheoretiker jedenfalls wollen Beweise gesichert haben, dass die Planer des Berliner Flughafens an dieser Krankheit leiden. Sie sollen von niederländischen Touristen infiziert worden sein – schließlich steht Berlin bei Niederländern hoch im Kurs. Die Folge: Ihre sorgsam entwickelten und ausgeklügelten Planungen für Start- und Landebahnen, Shoppingmall und Sicherheitskonzept wurden durch schwere Anfälle an „fortschreitenden Einsichten“ durchkreuzt – und schließlich vollends über den Haufen geworfen. Die Pläne sind sozusagen dem fortschreitenden Verfall ausgeliefert, wodurch echte Fortschritte nicht mehr erzielt werden können. Auch eine Einsicht.
Über den Autor
Frank Wöbbeking ist gelernter Tageszeitungsredakteur sowie Übersetzer (NL-D) und lebte selbst einige Jahre in den Niederlanden. Als Geschäftsführer der mediamixx GmbH verfügt er über mehr als 20 Jahre Erfahrung in grenzüberschreitender PR- und Pressearbeit für niederländische und deutsche Kunden. Im Rahmen von Seminaren und Workshops vermittelt Wöbbeking sein Know-how in Sachen grenzüberschreitender Kommunikation.