Ein Blog von Rechtsanwalt Dr. Sebastian Beyer, LL.M. (Auckland), Taylor Wessing Frankfurt am Main / Düsseldorf
Die niederländische Rechtsordnung ist – wie auch der dortige Kapitalmarkt – für deutsche Unternehmen kein Geheimtipp mehr. Den Formwechsel in eine Aktiengesellschaft nach niederländischem Recht (naamloze vennootschap, „N.V.“) haben bislang aber fast alle deutschen Emittenten gescheut. Was sind die Vorteile und wo liegen die Nachteile? Wo gibt es Fallstricke? Und müssen hierzulande Wirtschaft und Kapitalmarkt einen Exodus kapitalmarktorientierter Unternehmen befürchten?
Mit einem für viele Anwender komplexen Regelwerk, einem hohen Dokumentationsaufwand und nicht unerheblichen Kosten schreckt ein Formwechsel selbst auf nationaler Ebene viele Unternehmen ab. Auf internationaler Ebene kommt bzw. kam auch ein gehöriges Maß an (Rechts-)Unsicherheit hinzu, ist der grenzüberschreitende Formwechsel, im Gegensatz zur grenzüberschreitenden Verschmelzung innerhalb der EU (§§ 122a ff. UmwG), bislang gesetzlich nicht aus-drücklich geregelt. Soweit ersichtlich wagte unter börsennotierten Gesellschaften bislang nur die Vivoryon Therapeutics N.V. („Vivoryon“), die zuvor als Vivoryon Therapeutics AG bzw. Probiodrug AG firmierte, die Umwandlung in eine N.V. Das in der Alzheimerforschung tätige Unternehmen, das seinen Verwaltungssitz – weiterhin – in Halle an der Saale hat, war bereits seit dem Börsengang 2014 an der Euronext Amsterdam notiert und zog Ende des vergangenen Jahres seine Rechtsform nach.
Gesellschaftsrechtliche Struktur
Die möglichen Gründe für eine solche Maßnahmen betreffen zunächst die gesellschaftsrechtliche Struktur. Internationalen Investoren, insbesondere Investoren aus den USA, sei die niederländische Gesellschaftsrechtsordnung geläufiger, da sie ihren Rechtsordnungen mehr ähnele als die deutsche. Letztere sei zudem weniger flexibel. Gerade die hiesigen strengen Kapitalaufbringungs- und -erhaltungsregeln seien bei weiterem Wachstum durch die Beteiligung von Investoren bzw. die Aufnahme von Eigenkapital hinderlich und werden als Wettbewerbsnachteil wahrgenom-men. Dies betreffe insbesondere das Bezugsrecht der Aktionäre, das nach deutschem Recht nur unter strengen Voraussetzungen ausgeschlossen werden kann. Die Rechtsform einer N.V. erleichtere außerdem eine Börsennotierung in den USA, da sie im Gegensatz zur Aktiengesellschaft eine direkte Zulassung der Aktien zum Handel an einer US-amerikanischen Börse erlaubt. Fallen Heimatland der Börse und das der Gesellschaft auseinander, kann sich zudem immer die Frage stellen, welche Rechtsordnung bei der Beurteilung kapital- bzw. wertpapierrechtlicher Sachverhalte anwendbar ist. Daran schließt sich die Frage nach der zuständigen Aufsichtsbehörde an.
Umfangreiche Dokumentations- und Transparenzpflichten
Doch wo Licht ist, ist auch Schatten. Wer auch gesellschaftsrechtlich etwa im Domizil seiner Börse heimisch werden möchte, muss umfangreiche Dokumentations- und Transparenzpflichten erfüllen. Da jeder Formwechsel grundsätzlich einen Hauptversammlungsbeschluss mit Dreiviertelmehrheit, der eine hohe Hürde darstellen kann, erfordert, sollen die Aktionäre in die Lage versetzt werden, die Maßnahme zu durchdringen und ihr Stimmverhalten wohlüberlegt und -informiert auszuüben. Ein Umwandlungsbericht zu den Einzelheiten der Maßnahme ist daher ebenso zu erstellen wie etwa ein notariell zu beurkundender Umwandlungsplan und eine niederländische kapitalmarktfähige Satzung. Die entsprechenden Kosten für den Formwechsel können sich damit und wegen der flankierenden Maßnahmen für Umfirmierung, Umstellung der Börsen-notierung und die Hinzuziehung externe Berater mindestens auf einen mittleren sechsstelligen Betrag belaufen.
Abfindungsangebot für den „nationalen“ Formwechsel
Der finanzielle Aufwand kann sich ferner erheblich erhöhen, wenn die Gesellschaft den Aktionären für ihre Aktien ein Abfindungsangebot unterbreiten muss. Ein Abfindungsangebot sieht das Gesetz bislang in § 207 UmwG für den „nationalen“ Formwechsel vor. Da der grenzüberschreitende Formwechsel, wie eingangs erwähnt, gesetzlich bislang nicht ausdrücklich geregelt ist, fehlt für diesen eine entsprechende Bestimmung. Warum also ein Abfindungsangebot? Die deutsche Rechtspraxis wendet das bestehende Umwandlungsrecht – und damit auch § 207 UmwG – auch auf internationale Sachverhalte an. Dieser Praxis entsprechend sieht die so genannte EU-Mobilitätsrichtlinie (Richtlinie (EU) 2019/2121 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. November 2019), die u.a. grenzüberschreitende Formwechsel zum Gegenstand hat, in Erwä-gungsgrund 18 vor:
„Als Folge eines grenzüberschreitenden Vorhabens sind die Gesellschafter oft mit einer Situation konfrontiert, in der sich das auf ihre Rechte anwendbare Recht ändert, da sie Gesellschafter einer Gesellschaft würden, die dem Recht eines anderen Mitgliedstaats (…) unterliegt (…). Die Mitgliedstaaten sollten daher Gesellschaftern, die (…) gegen die Zustimmung zu dem Plan gestimmt haben, mindestens das Recht zukommen lassen, aus der Gesellschaft auszutreten und eine Barabfindung für ihre Anteile zu erhalten, die dem Wert dieser Anteile entspricht.“
Umsetzung in nationales Recht
Die Mitgliedstaaten müssen die Richtlinie bis zum 31. Januar 2023 in nationales Recht umsetzen, bis dahin wirft sie ihre Schatten voraus. Selbstverständlich kann ein solches Angebot die wechselwillige Gesellschaft überfordern: Was geschieht etwa, wenn ein signifikanter Anteil der Aktionäre den Gang über die Grenze nicht mitgehen will und ein möglicherweise attraktives, weil dem durch ein Gutachten bestätigten Unternehmenswert entsprechendes – und damit ggf. über dem Börsenkurs liegendes – Abfindungsangebot annehmen möchte? Um die umzugswillige Gesellschaft finanziell nicht zu sehr zu belasten, muss also die Höhe der ggf. zu leistenden Abfindungszahlungen durch geschickte Formulierung der entsprechenden Beschlussvorlage begrenzt werden.
Welche und wie viele deutsche Unternehmen dem Beispiel Vivoryons folgen werden, lässt sich heute natürlich nicht abschätzen. Die Anzeichen für einen „Dexit“ hiesiger Gesellschaften halten sich bislang in Grenzen, zumal die EU-Mobilitätsrichtlinie bislang nicht umgesetzt wurde. Zwar könnte man meinen, dass ein solches Abwandern verkraftbar wäre, zumal wenn Verwaltungssitz und Belegschaft – wie bei Vivoryon – weiterhin in Deutschland verbleiben. Doch lebt eine starke Volkswirtschaft letztlich auch von der Wettbewerbsfähigkeit ihrer Gesellschaftsrechtsordnung. Nicht nur die Unternehmen, sondern gerade auch der deutsche Gesetzgeber sollte die Entwicklung aufmerksam verfolgen, um den hiesigen Unternehmen ein Rechtsumfeld zu bereiten, das ihre Entwicklung im Sinne aller Stakeholder fördert.
Frühzeitige Abstimmung ratsam
Wie dargelegt, gehört ein grenzüberscheitender Formwechsel, jedenfalls bis zur Umsetzung der EU-Mobilitätsrichtlinie in die nationalen Rechtsordnungen, zu einem spannenden, aber auch komplexen und ggf. kostspieligen Vorhaben. Sollte der Gang über die Grenze ernsthaft erwogen werden, sollte frühzeitig die Abstimmung mit den beteiligten Stellen, insbesondere Börse(n) und Handelsregistern, gesucht werden, um Einzelmaßnahmen und Ablauf hinreichend sicher festzu-zurren. Vorstand und Aufsichtsrat sollten die Vor- und Nachteile einer solchen Maßnahme genau abwägen und gerade auch die finanzielle Belastbarkeit „ihrer“ Gesellschaft im Blick behalten. Denn die Sinnhaftigkeit eines grenzüberscheitenden Formwechsels – etwa in die Niederlande – kann immer nur im Einzelfall bestimmt werden und erfordert Augenmaß.
Über den Autor
Dr. Sebastian Beyer in Salary Partner in den Frankfurter und Düsseldorfer Büros von Taylor Wessing. Er berät insbesondere kapitalmarktorientierte und börsennotierte Unternehmen in sämtlichen Fragen des Aktien- und Kapitalmarktrechts. Er gehörte dem Taylor Wessing Team an, das die Vivoryon Therapeutics AG (ehemals Probiodrug AG) beim Gang an die Amsterdamer Börse unterstützt hat und arbeitet regelmäßig mit den niederländischen Kollegen der Sozietät zusammen.